Dienstag, 7. Juli 2015
Dienstag, 7. Juli 2015
jahre danach las ich einen spatz von der straße auf und nahm ihn mit nach hause. ihn einfach seinem schicksal zu überlassen, hatte ich nicht übers herz gebracht. er war noch gänzlich nackt und ich hatte keine große hoffnung, dass er überleben könnte. mit einer mischung aus ei und haferflocken fütterte ihn mit Hilfe einer pipette. später bekam er regenwürmer, mehlwürmer und anderes, das mir für den kleinen vogel geeignet schien. gundolf nannte ich ihn. ich hatte ihm ein nest zurecht gemacht, in dem ich ihn überall mit hinnahm. als er flügge wurde, musste er jedoch in meinem zimmer bleiben. sobald ich kam, flog gundolf mir entgegen. ich wollte ihn aber so bald wie möglich in die freiheit entlassen. damit er die gelegenheit hätte, sich auf ein leben in freier natur einzustellen, baute ich eine voliere auf unserem balkon. doch der kleine vogel reagierte total verstört auf die neue umgebung. er verlor seine zutraulichkeit. nach zwei tagen musste ich die volierentüre öffnen und gundolf flog davon. ich sah ihn nie wieder.
unseren abschied hatte ich mir anders gewünscht; hatte gundolf von meiner hand zum nächsten baum fliegen sehen und wieder zurückkehren; hatte gehofft, dass er mich noch eine weile an seinem leben in freiheit teilhaben ließe, bis er ohne meine futterpakete zurechtkäme.
erstmals hatte ich eine ahnung vom: schlechten des guten*, bekommen. dieser verlust meines gefiederten freundes hatte mich traurig gemacht.
kira, eine schwarz-weiß gefleckte jagdhündin begleitete mich beinahe zehn jahre. sie war extrem schreckhaft. ihr besitzer, der sie für die
jagd nutzen wollte, hatte sie kurzerhand mir überlassen,
da er keine verwendung mehr für sie hatte.
auch der abschied von kira geriet anders, als ich ihn mir
gewünscht hatte. daisy und lui waren, hatten wir vom
tierarzt einschläfern lassen müssen, als ihre krankheit
nicht mehr zu behandeln war. wir wollten ihnen das
leiden am ende ihres lebens ersparen.
bei kira wollte ich einen anderen weg gehen.
mit dem sterben und dem tod hatte ich schon einige
einschneidende erfahrungen machen müssen, nicht nur
beim sterben der tiere, sondern auch bei dem von
menschen, die mir nahe gewesen waren. was ist ein gutes sterben, was ein guter tod. diese fragen beschäftigten mich schon damals sehr. es war mir eine herzensangelegenheit, kira ohne menschliche intervention sterben zu lassen, so wie es natürlicherweise geschieht.
was ich nicht wusste, war, wie schwer es ist, das sterben eines anderen wesens über tage auszuhalten. ich kochte hühnersuppe für kira, die ich ihr einzuflößen versuchte; träufelte ihr wasser ins maul; versuchte ihr fell zu reinigen, wenn sie unter sich gemacht hatte – und immer wieder der vergebliche versuch, dem impuls, ständig nach ihr sehen zu wollen, zu widerstehen. morgens, wenn ich wach wurde, sah ich als erstes nach ihr. in der wehen hoffnung, ihr leiden möge während der nacht ein ende gefunden haben. ein weiterer tag und eine nacht vergingen. wenn ihre klagenden laute mir ins herz schnitten, versuchte ich mit schmerzzäpfchen ihr leiden zu lindern. in der dritten nacht konnte ich es nicht mehr ertragen. in den morgenstunden fuhren wir mit kira in eine tierklinik, um auch sie einschläfern zu lassen.
oft habe ich mich gefragt, was mich eigentlich so für die schnecken einnimmt, die nun seit monaten bei mir leben. eine mögliche antwort liegt in der behausung, auf die sie – genau wie wir menschen – angewiesen sind. im gegensatz zu uns trägt sie ihre auf dem rücken, nicht als last sondern als schutz und rückzugsort. zusammen mit dem geschmeidigen körper der schnecke bildet sie eine vollkommene einheit. die flexibilität, mit der schnecke und schneckenhaus verbunden sind, lässt dieses haus, trotz seiner starre, alle bewegungen und windungen der schnecke mitmachen. nie hatte ich den eindruck, ihr haus wäre irgendwie im weg oder störe die beweglichkeit der schnecke. sie bilden ein harmonisches ganzes. diese perfekte verbindung gegensätzlicher qualitäten erweckt in mir ein empfinden von vollendeter schönheit. vielleicht liegt die antwort auf die eingangs gestellte frage in der sehnsucht nach dieser art lebensqualität?
einen weiteren aspekt einer möglichen antwort sehe ich darin, dass das schneckenhaus, obgleich schnecken sehr näheliebend sind (oft findet man sie im pulk bei einander sitzend), ein, meiner interpretation nach, ausgewogenes verhältnis von nähe und distanz erlaubt, das auch in meinem leben von existentieller bedeutung ist.
und natürlich ist es die form des schneckenhauses selbst, die mich fasziniert. die spirale hat nicht die geschlossenheit des kreises, der für ganzheit und vollkommenheit steht, sondern einen anfangs- und einen endpunkt, auch wenn beides sich in unendlichkeit fortsetzend gedacht werden kann. die spirale symbolisiert also keine vollkommenheit, sondern eher einen weg, den lebensweg, der mit der geburt oder der zeugung beginnt und mit dem tod endet – doch gleichzeitig auch die möglichkeit offen lässt, das leben, das wir auf diesem planeten leben, sei vielleicht nur ein winziger ausschnitt in unserer unendlichkeit. wer kann angesichts des universums schon mit absoluter gewissheit behaupten, geburt/zeugung seien der anfang und der tod das ende unserer existenz?
eine eindeutige antwort auf die frage, warum mich die schnecken so faszinieren, habe ich nicht gefunden, bloß facetten möglicher antworten. meine schnecken haben mich, auf schneckenweise, jedenfalls besonders eines gelehrt: dass schönheit überall zu finden ist – um sie zu sehen, brauche ich nur mein herz zu öffnen, der verstand folgt von alleine – gemeinsam schaffen sie ein empfinden von sinnhaftigkeit, das mich glücklich macht.
in diesem sinne endet die schnecken-spirale hier.
*anmerkungen und externe links:
mein langer weg zur schnecke …
*paul watzlawick, »vom schlechten des guten oder hekates lösungen«, piper,1986
als ich ein kind war, schenkte eine tante uns zu weihnachten einen hamster. meine schwester und ich hatten uns ein kleines haustier gewünscht. bald darauf wurde der hamster krankt und starb. mein vater begrub ihn in unserem garten. es war kalt, die erde war gefroren. tränenüberströmt standen wir hinter der terrassentüre und sahen ihm dabei zu, die nasen ans kalte fensterglas gepresst. auch bei meinem vaters flossen tränen.
danach folgten einige wellensittiche, die zwar etwas länger bei uns waren als der hamster. einigen war jedoch auch keine lange lebebszeit beschieden und die anderen flogen durch offene fenster oder türen davon. einer der wellensittiche war sehr zutraulich gewesen. er spazierte gerne über meine hefte und schulbücher, wenn ich bei den hausaufgaben saß. besonders hatte es ihm meine schreibhand angetan. deren bewegungen konnte er unermüdlich folgen und schlüpfte dabei in den hohlraum, den die hand beim schreiben bildete. das fand ich natürlich viel amüsanter als meine hausaufgaben.
mein größter wunsch war jedoch ein eigener hund. unablässig lag ich meinen eltern damit in den ohren. ich musste lange warten. als ich siebzehn war, brachte mein vater eines tages eine einjährige boxerhündin mit nach hause. obwohl ich boxer damals unglaublich hässlich fand, änderte sich das schlagartig, als ich daisy – so hieß die hündin – zum ersten mal sah. ich verliebte mich sofort in sie.
auf einem unserer spaziergänge im park ließ sich daisy mit einem collie ein. nach dem liebestreiben kamen die hunde nicht voneinander los und umstehende leute riefen lautstark, jemand solle einen eimer mit kalten wasser holen, um die hunde zu trennen. die natur nahm ihren lauf. irgendwann lösten sich die hunde voneinander – ganz ohne menschliche einflussnahme.
in meinen kleiderschrank brachte daisy acht welpen zur welt. es war grandios! jeden neuankömmling befreite daisy sogleich von der fruchtblase und leckte das fell sauber. danach erst, durfte ich ihn nehmen. die aufzucht der welpen war ein riesiges abenteuer für mich. lui, kasper, donald, söckchen – die anderen hundenamen habe ich vergessen. lui war mir der liebste aus dem wurf. ihn wollte ich unbedingt behalten. glücklicherweise gelang es mir, meine eltern zu überreden. die übrigen hunde fanden bei lieben menschen ein neues zuhause.
es folgten weißen mäuse. der sohn meines lebensgefährten überredete mich, seine beiden mäuse aufzunehmen. ich fand sie ganz putzig, doch eigentlich wollte ich nach kiras tod keine haustiere mehr haben. mäuse leben nur sehr kurz, ca. drei jahre. hinzu kam, dass sie erbärmlich stinken. ein grund für die rigorose haltung seiner mutter, die mäuse länger in der wohnung zu halten. eine tägliche reinigung des käfigs änderte nichts an der penetranten geruchsentwicklung. abhilfe schaffte erst eine verkäuferin aus der tierhandlung, ich mir empfahl, es mit hanfstreu zu versuchen. von da an ging’s aufwärts mit der beziehung zwischen mir und den mäusen – und wäre ihr leben nicht so kurz, zählten sie heute sicherlich zu meinen liebsten tierischen hausgenossen.
danach fand hin und wieder eine insektenlarve per biogemüse den weg in meine wohnung und eines tages flatterte ein zitronenfalter, ein kohlweißling oder ein anderer falter in meiner küche herum. da sie meist zur falschen jahreszeit aus ihrem puppengehäuse schlüpften, leisteten sie mir nur für kurze zeit gesellschaft. morgens machte ich mich auf die Suche nach meinen fliegenden hausgenossen und versuchte sie mit honigwasser oder ähnlichem über die runden zu bringen.
ja, und dann kamen die schnecken. sie sind gewachsen, haben ihren lebensraum erkundet und angenommen und für reichlich nachkommenschaft gesorgt (weshalb ich mich leider bald von ihnen trennen werde), seitdem sie ihre kleine grüne oase bewohnen. auch ich habe in der annäherung an meine mitbewohner einen prozess durchlebt: von der unbedarften schneckenversorgerin, bin ich nun als amateurforscherin auf schneckenspuren unterwegs. nie hätte ich gedacht, dass das beobachten der schnecken so viel spaß machen kann. besonders fasziniert mich momentan ihr gehäuse, dessen spiraliges form sich auf vielfältige weise in den unterschiedlichen kulturen wiederfindet. jüngstes beispiel ist das von daniel libeskind für die chinesische immobilienfirma vanke entworfene spiralenhaus*, auf der expo 2015 in mailand, dem eine idee der verschmelzung von innen und außen zugrunde liegt.
unter dem oberbegriff der landschnecke tummeln sich viele arten, die sehr gegensätzliche lebensräume erobert haben. schon bei meinen fünf schnecken macht sich diese unterschiedlichkeit z. b. bei der wahl ihres ruheplatzes bemerkbar – eher feucht und dunkel oder licht und trocken. drei meiner fünf schnecken gehören zur art der weinbergschnecken aus der familie der schnirkelschnecken (helicidae): zwei gefleckte kleine und eine gefleckte große, die wahrscheinlich als blinde passagiere aus marokkanischen oder algerischen salatplantagen hierher gereist sind – wobei es unter schneckenkundlern unterschiedliche auffassungen über die bestimmung der gattung gibt (helix oder cornu). die vierte ist wohl auch eine weinbergschnecke, die es eher feucht und schattig liebt. die fünfte, eine gemeine heideschnecke aus der familie der laubschnecken (hygromiidae) braucht allerdings ein eher trockeneres plätzchen für ein glückliches schneckenleben. sie sitzt meist auf dem höchsten platz im schneckengarten.
weinbergschnecken sind, nach allem was ich gelesen habe, besonders anpassungsfähig. insofern hoffe ich, dass sie sich in ihrem minigarten wohl fühlen.
auf den spuren der schnecken habe ich viel über ihr leben gelernt, aus eigener ansicht und dank der informationen aus dem world wide web*. für schnecken besteht weder bedarf noch notwendigkeit, von uns menschen zu lernen. im laufe des evolutionären prozesses haben sie ein derart erfolgreiches überlebenskonzept entwickelt, dass sie, erst mal an land (nach rückbildung der kiemen entwickelte sich bei ihnen eine lunge), bis heute in nahezu unveränderter gestalt zu finden sind und die verschiedensten lebensräume besiedeln können, wenn der mensch sie nicht daran zu hindern versucht.
meine schnecken zu beobachten, empfinde ich als großes glück. es hat etwas meditatives, ihnen zuzusehen. sie lassen die schnelllebigkeit unserer zeit vergessen, den damit einhergehenden verlust an bedeutung und sinnhaftigkeit. sinnbild einer absolut unaufgeregten, stressfreien form des seins. die fließenden wellenartigen bewegungen ihres körpers lassen das element wasser noch erahnen. kraftvoll und gleichzeitig von sanfter stetigkeit ist ihre bewegung, die wie das wasser jedes hindernis über- und umwindet. ihre wendigkeit scheint die schwerkraft außer kraft zu setzen. diesen körper auf biologisch korrekte weise als: fuß, zu bezeichnen, fiele mir im traum nicht ein.
weinbergschnecken verfügen über ein besonderes gen, dass sie vor stressauslösenden umwelteinflüssen schützt, sogar giftige metalle können sie in großen mengen speichern und in ihrem körper entgiften. gegen den schneckenfressenden menschen, landläufig auch gourmet genannt, den es nicht berührt, dass die schnecken bei lebendigem leib in kochendes wasser geworfen werden, ist jedoch selbst dieses supergen machtlos.
ansonsten kann das leben einer weinbergschnecke relativ lang sein, bis zu 8 jahre alt kann sie werden, sofern sie das geschlechtsreife alter erreicht. aus einem gelege von ca. 30 eiern schaffen das gerade mal 3 – 5 schnecken. erstaunlich fand ich, dass sie im geschützten gehege sogar ein für schnecken biblisches alter von 20 jahren erreichen kann. in freier wildbahn steht die weinbergschnecke inzwischen unter naturschutz.
dass meine fünf schnecken mich so in ihren bann ziehen, liegt an der anmutigkeit ihrer fließenden bewegungen. vor allem jedoch fasziniert mich die berührende art, wie sie mit ihren fühlern, die unentwegt in aktion sind, die umgebung mit einem sanft zuckenden antippen erkunden. und natürlich ihr schneckenhaus, das sie von geburt an – da ist das haus noch völlig transparent, wie das schneckchen selbst – auf ihrem rücken trägt.
ein großteil der schätzungsweise 25.000 arten landlebender schnecken hat so ein spiralförmig gewundenes haus aus kalk, das nicht nur vor fressfeinden schutz bietet, sondern auch vor klimatischen einflüssen, wie trockenheit oder kälte schützt. bei bedarf können weinbergschnecken ihr haus mit einem kalkdeckel verschließen und das innere des gehäuses zusätzlich mit einer luftschicht gegen kälte oder hitze isolieren; aus südlicheren regionen stammende schneckenarten, wie die gefleckten weinbergschnecken, schützen sich vor austrocknung, indem sie ihr schneckenhaus mit einem dünnen häutchen abdichten.
so oder so, sobald das haus verschlossen ist, fahren die schnecken ihren stoffwechsel auf ein minimum herunter und überleben auf diese weise auch widrige zeiten mehr oder weniger lange. zusätzlich schützt sie ihr schneckenschleim vor übermäßiger verdunstung oder, blasig aufgebläht, vor feindlichen angriffen.
die meist rechtsgängig gewundene schneckenhausspirale kann sich, auch andersherum drehen. wenn das so ist, was sehr selten geschieht, wird die schnecke zum schneckenkönig erhoben. den schnecken ist’s gleich.
weinbergschnecken gibt es wahrscheinlich seit der jurazeit (vor ca. 200 millionen jahren), ihre unbehausten vorfahren zu land und zu wasser bereits im kambrium (vor ca. 600 millionen jahren). es gab sie also lange bevor der homo sapiens vor ca. 200.000 jahren auf der bildfläche erschien. vielleicht hat er das transportable haus ja den schnecken abgeguckt, denn als er noch als jäger und sammler unterwegs war, hat er sein haus, wie sie, oftmals mit auf die wanderschaft genommen. viele nomadenvölker halten das heute noch so. der moderne, sesshafte mensch kennt das transportable haus nur noch als zelt, wohn-, bzw. campingwagen oder in der schwimmenden version: als hausboot.
in der natur ist das schneckenhaus jedoch nur eine variation spiralförmiger entwicklung. es gibt unzählige phänomene dieser art: luftmassen, die wirbelbildend aneinander vorbeiströmen, sich zu spektakulären naturschauspielen verdichten, z.b. beim wirbelsturm; rauch, der wirbelnd aufsteigt; wasser, das wirbel bildend, hindernisse umströmt, wasserströme unterschiedlicher temperaturen, die sich aneinander vorbeiwälzen, wellen, die sich überschlagen, etc.
überall da, wo sich in der bewegung grenzflächen berühren, wo es differenzen gibt, besteht eine tendenz zur wirbelbildung.
in den elementen luft und wasser zeigt der wirbel sich noch als reine bewegung. im schneckenhaus, in den gehörnen vieler tiere, der gehörschnecke des menschlichen innenohres etc. materialisiert er sich in einer festen, ausdifferenzierten form. die dynamik der spiraligen entwicklung zeigt sich auch im wachstum vieler pflanzen (wundergarten der natur, karl blossfeldt), besonders gut zu beobachten am farnblatt, dass sich innerhalb kurzer zeit aus der spirale heraus entfaltet.
so verwundert es nicht, dass der mensch diese urform (urformen der kunst, karl blossfeldt*) schon früh aufgegriffen hat und die spirale als stilisiertes zeichen, symbol oder verzierendes ornament auf rituellen gegenständen, ebenso wie auf alltäglichen gebrauchsgegenständen, in fast allen kulturen zu finden ist.
auch architekten der neuzeit, die den begriff des organischen bauens für ihre werke in anspruch nehmen, wie frank lloyd wright, der formen, farben und materialien aus der natur mit geometrischen elementen verband, greifen ebenfalls auf die spiralform zurück. sein berühmtestes gebäude, das guggenheim museum in new york*, das 1959 am central park eröffnet wurde und in dem eine der bedeutendsten kunstsammlungen der welt untergebracht ist, präsentiert sich in form einer spirale.
auch der ansonsten für eine ganz andere art des bauens bekannte schweizerisch-französische architekt le corbusier, einer der einflussreichsten architekten des 20. jahrhunderts, der mit seinen wohnmaschinen für die rationale logik des funktionalismus stand, hat mit der chapelle notre-dame-du-haut de ronchamps mitten in der französischen provinz eine kirche geschaffen, die sich in ihrer äußeren erscheinung an organische formen anlehnt und vorbild für viele kirchenbauten überall auf der welt wurde. am ende seines lebens nahm er den auftrag für die planung der erlenbacher kunstspirale an, dem bau eines unbeschränkt ausbaufähigen museums in form einer rechteckigen spirale – die verwirklichung seines jugendtraumes – das jedoch nicht mehr realisiert wurde.
die endlosigkeit der spirale hat auch den projektkünstler hannsjörg voth inspiriert, der 1996/97 in der marokkanischen wüste ein archaisch anmutendes, monumentales werk schuf: die goldene spirale*, in deren zentrum 27 stufen einer wendeltreppe zu zwei arbeits-, wohnräumen führt und 100 weitere stufen sich spiralig in die tiefe winden zu einem brunnen, auf dessen wasseroberfläche ein, durch einen schrein geschütztes, aus edelmetall geschmiedetes urboot einer arche gleich schwimmt. sinnbildlich als anfang und latente urkraft.
doch auch in profanen bauten, in den auf- und abfahrten der parkhäuser, in der konstruktion von treppenhäusern – besonders eindrucksvoll: die doppelläufige wendeltreppe in den vatikanischen museen – dient die spirale als vorbild.
in burnley, england, steht die wundervolle musikskulptur: singing ringing tree* des architekten und künstlers tonkin liu, deren spiralig angelegten röhren den wind tönen lassen.
die schnecke, oder besser gesagt, die spiralige form ihres hauses, findet sich als dekoratives element auch bei anderen musikinstrumenten, z.b. bei der violine, der bratsche, dem kontrabass, deren wirbelkästen in einer verzierung enden, die oft in form einer schnecke, seltener als frauen- oder löwenkopf geschnitzt ist, und meist ein erkennungszeichen des geigenbauers ist.
eingehend mit der spirale auseinandergesetzt und auf ihren symbolischen gehalt bezug genommen hat der österreichische künstler hunderwasser. in seinen malereien und grafiken hat er sie immer wieder dargestellt, ebenso in seinem architektonischen werk, in dem er sich für die vielfalt des organischen und die schönheit der natur, gegen den rechten winkel, stark gemacht hat. seine zugrundeliegende lebenshaltung nannte er selbst: vegetativ.
von richard serra stammt die raumgreifende begehbare Installation: the matter of time, 2005, acht gigantische stahlskulpturen, spiralen, ellipsen und wellenformen, die im guggenheim museum bilbao zu sehen sind.
auch die literatur kann mit spiraligem aufwarten. in einem der größten werke der weltliteratur, der commedia (1307-1321)* von dante alighieri, wandert dante mit virgil als führer, durch die höllenkreise, die trichterförmig zum mittelpunkt der erde hinabführen. sandro botticelli hat diesen höllenpfad 1485 in der zeichnung: la carte de l'enfer/the abyss of hell, eindrucksvoll dargestellt. der aufstieg erfolgt auf einem spiralförmigen weg durch die bußbereiche des läuterungsberges zum garten eden, dem irdischen paradies. beatrice begleitet dante schließlich durch die sphären des himmlischen paradieses und schließlich gelangt er – durch beatrices fürsprache und die der heiligen – zur gottesschau.
die hier als literarisches mittel eingesetzten ineinander übergehenden konzentrischen kreise sind eines der ältesten von menschen überlieferten ornamente überhaupt, die häufig in kombination mit der spirale dargestellt werden.
der turm zu babel wird in der bildenden kunst ebenfalls häufig als spiraliger bau dargestellt. hier wird die spirale zum symbol menschlicher hybris, keine spirale der gewalt, sondern die der vermessenheit. beispielhaft dafür sind die gemälde von pieter brueghel dem älteren: großer turmbau zu babel, 1563, lucas van valckenborchs: turmbau zu babel, 1594, und gustave dorés grafik: sprachverwirrung, 1865.
dass die spiralform auch in der technik ihren platz gefunden hat ist eigentlich logisch. diese geniale form lässt sich in vielfältiger weise nutzen, zum beispiel für sortierschnecken auf denen briefe und pakete transportiert werden; für den schneckengang, der z. b. in der fotografie und der astronomie zur stufenlosen einstellung der objektive anwendung findet; die schneckengewinde-schelle zur befestigung; oder für die sogenannte schneckenpumpe, die zum transport von wasser auf ein höheres niveau zu be- und entwässerungszwecken genutzt wird. eine erfindung, die dem griechischen mathematiker und ingenieur archimedes (3. jh. v. chr.) zugeschrieben wird.
noch unzählige weitere beispiele ließen sich finden, an hand derer sich aufzeigen ließe, wie die form der spirale in fast alle bereiche des lebens einzug gefunden hat.
im gegensatz zu voth, hat hunderwasser die spirale nie als eine mathematisch vermessbare und berechenbare größe gesehen, sondern er hat sie, organisch im sinne der menschlichen natur, wachsen lassen, mit ausbuchtungen, unregelmäßigkeiten, neben-, um- und abwegen.
die spirale als lebensweg, als entwicklungsweg, als symbolische darstellung vom anfang und ende des lebens, ist ein gängiges, oft auch religiös besetztes symbol in vielen kulturen. auch in der philosophie lässt sich der einfluss der spirale ablesen: »Die Ausschöpfung des wahren Sinns aber, der in einem Text oder in einer künstlerischen Schöpfung gelegen ist, kommt nicht irgendwo zum Abschluß, sondern ist in Wahrheit ein unendlicher Prozeß. Es werden nicht nur immer neue Fehlerquellen ausgeschaltet, so daß der wahre Sinn aus allerlei Trübungen herausgefiltert wird, sondern es entspringen stets neue Quellen des Verständnisses, die ungeahnte Sinnbezüge offenbaren. Der Zeitenabstand, der die Filterung leistet, hat nicht eine abgeschlossene Größe, sondern ist in einer ständigen Bewegung und Ausweitung begriffen.« hans-georg gadamer, wahrheit und methode. band 1, 6. aufl., tübingen 1990, s.303.
obwohl kreisförmig, schließt sich die spirale, im gegensatz zum kreis, nie. in stetig sich ausweitenden windungen um einen punkt dreht sie sich in der fließenden bewegung dieser umschließung sozusagen korrelierend mit ihrer vorherigen umdrehung vorwärts. theoretisch kann sie ihre windungen endlos fortsetzen. diese korrespondenz vom kleinsten zum unendlichem, zum größten also, scheint auch im universum zu bestehen. wobei die unendlichkeit, ins unendlich kleine oder ins unendlich große, trotz der erfolge wissenschaftlicher forschung immer noch eine unbekannte ist.
auf unserem planeten setzt sich dieser prozess jedoch nicht endlos fort, sondern wird begrenzt bzw. gestoppt durch weitere entwicklungen, die dieses physikalisch/biologischen aufbaus nicht mehr bedürfen, d. h. ihn entweder überwinden (z. b. die entwicklung eine farnblattes, ausgehend von einer spirale/wirbel übergehend in eine in die fläche gehende form) oder in einer erstarrten form wie z.b. im menschlichen innenohr konservieren.
bei der wirbelbildung in gasförmigen und flüssigen elementen, mit ihren eigenen formen, rhythmen und bewegungen, kann man beobachten, dass der wirbel sich außen langsam und innen schneller dreht, was mit kleinen abweichungen auch auf die großen bewegungen des planetensystems zutrifft (das zweite keplersche gesetz der planetenbewegung). sogar unsere galaxie zeigt, mit den bisher entdeckten vier spiralarmen des milchstraßensystems, eine charakteristische spiralstruktur.
die spirale ist allgegenwärtig. ob in gasförmiger oder flüssiger form als wirbel oder in der mehr oder weniger verfestigten materie, im schneckenhaus, den muscheln, etc., oder im pflanzenreich, ob in der kunst, im universum oder symbolisch gedacht. ihre schönheit und innere kraft ist offenkundig. ob ich sie von ihrem entferntesten punkt ausgehend zur mitte hin beschreite oder umgekehrt – sie lässt beides zu.